Das Telefon-Wunder

Der Werkstattmeister meines Autohauses und ich haben eine bemerkenswerte Art, miteinander umzugehen. Was in der direkten Begegnung nüchtern und aufs Nötigste beschränkt bleibt, ist fernmündlich das reinste Epos. Wenn wir telefonieren, tun wir das ausführlich. Mein Fahrzeug und alles, was damit zusammenhängt, wird zur spirituellen Begegnungsstätte. Das Gespräch scheint nie in Zeitdruck zu geraten und ist geprägt von einem tiefen zwischenmenschlichen Wohlwollen - und allein stimmlich mutiert dieser Austausch für mich zu einem Wellness-Aufenthalt, den ich jedes Mal nur widerwillig beende.

 

Spätestens bei der Schlüsselübergabe nach erfolgten Wartungs-und Reparaturarbeiten sind wir beide wieder fest am Boden der Tatsachen. Mein Meister rapportiert nahezu ausdruckslos über die gefundenen Fehler und ich nicke und zahle die Rechnung. Abwicklungszeitraum: zwischen drei und fünf Minuten.

 

Irgendwie scheint es, als hätte ich es mit zwei völlig unterschiedlichen Personen zu tun - und so plane ich in meiner Phantasie, bei meinem nächsten Ölwechsel mit zwei Kinder-Plastiktelefonhörern anzureisen und den einen davon dem Meister augenzwinkernd in die Hand zu drücken und etwas zu sagen wie "am Telefon können wir's einfach besser miteinander."

 

Ob dieser humoristisch intendierte Auftritt großes Verständnis hervorrufen würde, bleibt fraglich - und ich sehe durchaus die Gefahr, dass unsere persönlichen Begegnungen danach noch holpriger verlaufen.

 

Da ich meinen Werkstattmeister fachlich und natürlich auch menschlich sehr schätze, werde ich ihm diese groteske Situation möglicherweise ersparen (außer ich finde noch die passende, schuss-sichere Plexiglas-Trennscheibe).

 

Ich werde es mir allerdings nicht nehmen lassen, dieses Phänomen weiter zu beobachten. Vielleicht gibt es ja wirklich bestimmte
Vor-Einstellungen, die den Grundstein für ein flüssiges oder eher karges Gespräch legen.

 

Kennen Sie dieses Thema auch? Haben Sie schon erlebt, dass Sie sich am Telefon oder mittels anderer Kommunikationsmedien ganz fabelhaft mit einer anderen Person austauschen können und zu Ihrer persönlichen Hochform auflaufen, um dann im unmittelbaren Kontakt hilflos dabei zusehen zu müssen, wie Sie und Ihr WhatsApp-Schwarm in ein nahezu autistisches Interaktionsmuster fallen?

 

Brauchen wir womöglich bisweilen eine Art zwischengeschaltetes Hilfsmittel, um aus uns herausgehen zu können?

 

Irgendwas muss wohl dran sein. Ich erinnere mich beispielsweise mit Belustigung daran, dass meine Großmutter und deren Schwester Zenta aufgrund unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten in den 1970er Jahren jeden Sonntag um ein horrendes Geld stundenlang mit einander telefonierten und bei persönlichen Zusammenkünften so gut wie kein Wort miteinander wechselten. Wir anderen Familienmitglieder sahen jedes Jahr mindestens einmal fassungslos dabei zu, wie die beiden älteren Damen buchstäblich jeden Blickkontakt vermieden, um am nächstmöglichen Sonntag ihren Telefonmarathon wieder aufzunehmen.

 

Manchmal überlege ich mir, ob ich meinen Plastikhörer-Feldversuch an dieser Stelle vergleichsweise gefahrlos hätte ausprobieren können. Lustig wäre es allemal gewesen, denke ich. Jetzt sind die beiden Schwestern schon jahrzehntelang tot. Aber vor meinem geistigen Auge sehe ich sie nebeneinander in unserem Garten sitzen - jede mit einem knatschgelben Telefonhörer in der Hand. Sie lachen und plaudern sich durch die kostenbaren Momente eines kunterbunten Sommertages und da werde ich stellvertretend wehmütig angesichts der zahlreichen ungenutzten Augenblicke dieser ohnehin viel zu seltenen Begegnungen.

 

Heute Nachmittag hole ich mal wieder mein Auto aus der Werkstatt. Und diesmal werde ich mich besonders bemühen, meine Wertschätzung auszudrücken, in dem ich bewusst ein paar extra nette Worte finde und beim Zahlen lächle. 

Ohne Telefonhörer.

 

 

 

 

 

 

 

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